Der Mythos über den Vorteil langer Beine

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Wenn man sich mit Leuten über das Laufen oder Walken oder generell einfachem Gehen unterhält, fallen immer wieder mal Thesen und Bemerkungen, welche groß gewachsenen Menschen mit langen Beinen Vorteile bescheinigen wollen. Mit ihren langen Beinen müssen sie ja weniger Schritte machen und legen pro Schritt mehr Strecke zurück – so der Gedankengang. Eine dicke Milchmädchenrechnung, denn die Rechnungen „wenig Schritte = wenig Belastung“ und „viele Schritte = hohe Belastung“ ist grundfalsch. Die Physik macht diese Rechnung zunichte. Übrigens ist dieses Thema auch verwandt mit <Effektive Geh- und Lauftechnik am Berg>.

Die Geschwindigkeit ergibt sich aus dem Verhältnis von Schrittlänge und Schrittfrequenz. Dabei spielt der Widerstand eine Rolle, welcher sich einem entgegen stemmt und der wiederum entscheidet, wie viel Kraft man einsetzen muss. Und je mehr Kraft man einsetzen muss, desto anstrengender ist es und umso schneller wird die Muskulatur (der Beine) müde. Die Beine sind physikalisch gesehen nichts anderes als zwei Pendel, welche beschleunigt werden müssen. Mit jedem Schritt, bei dem ein Bein nach vorne bewegt wird, wird (s)eine Masse beschleunigt. Die Bewegungsgeschwindigkeit des Endes eines Pendels ist umso höher (bei gleicher Bewegungsfrequenz), je länger es ist, weil ein entsprechend längerer Weg zurückgelegt werden muss (je länger das Pendel, desto weiter ist sein Ende von der Drehachse entfernt und umso mehr Weg muss es ja bei gleicher Zeit zurücklegen). Hierfür wird Energie benötigt und die Massenträgheit spielt eine Rolle (das Bestreben von physikalischen Körpern, in ihrem Bewegungszustand zu verharren, solange keine Kräfte auf sie einwirken). Je länger und schwerer ein Pendel ist und je weiter es beschleunigt werden muss, desto mehr Kraft (und Energie) muss aufgewendet werden (bei gleicher Amplitude bzw. Radius). Ein längerer Schritt (egal bei welcher Beinlänge) bedeutet immer, dass das (Bein-)Pendel über einen längeren Weg beschleunigt werden muss!

Ein großer Läufer / Walker ist im Mittel schwerer als ein relativ kleiner Läufer / Walker – und seine Beine sind es demgemäß auch. Ein längerer Schritt, in Verbindung mit längeren und schwereren Beinen, fordern ihm mehr Energie respektive Kraft ab als ein Läufer / Walker mit geringerer Körpergröße. Der vermeintliche Vorteil des größeren Raumgewinns pro Schritt wird wieder zunichtegemacht bzw. erkauft durch mehr Kraft. Und hierbei entsteht noch nicht mal ein Ausgleich, sondern es ist von Nachteil! Bewegungsfrequenz geht vor Bewegungsamplitude! Man wird dadurch schneller, indem man primär die Schrittfrequenz erhöht – nicht die Schrittlänge (eine ganz wichtige Regel)! Und lange Beine zu haben, bedeutet immer, dass man bezüglich der Schrittfrequenz eher limitiert wird als bei kürzeren Beinen! Der „Langbeiner“ benötigt immer mehr Kraft und muss damit unökonomischer laufen / gehen als ein „Kurzbeiner“.

Natürlich muss dies relativiert werden. Der Mensch ist bezüglich Bewegungsfrequenzen limitiert. Die Muskeln können nicht beliebig schnell kontrahieren bzw. bei sehr hohen Bewegungsfrequenzen ist der energetische Aufwand irgendwann auch zu hoch. So kann ein kleines Kind tempomäßig nicht mit einem Erwachsenen mithalten. Bei seinen kurzen Beinen müsste das Kind sprinten, um das Tempo eines ausgewachsenen Menschen halten zu können. So sind auch recht kleingewachsene erwachsene Menschen ab einer gewissen „Kleinheit“ beim Laufen / Gehen gegenüber größeren klar benachteiligt. Weiterhin müssen lange Beine nicht immer bedeuten, dass diese leichter sind als kürzere Beine. So kann ein langes aber muskelärmeres, schlankes Bein leichter sein als ein kürzeres aber muskelbepacktes. Somit ließe sich das längere leichter beschleunigen und kann dann auch ausreichend hochfrequent bewegt werden. Ist also ein relativ großgewachsener Mensch sehr schlank und damit nicht schwerer als ein kleinerer, muss er trotz etwas größerer Schrittlänge (bei etwas geringerer Schrittfrequenz) gegenüber einem kleineren Menschen beim Laufen / Gehen nicht zwingend im Nachteil sein. Ab einer gewissen Größe müsste ein solcher Läufer / Walker aber eine sehr geringe Muskelentwicklung haben, damit das gesamte Köpergewicht noch ausreichend gering ist, denn das ganze Körpergewicht muss ja schließlich bewegt werden. Ist die Muskelentwicklung aber zu gering, dann wird es gesundheitlich schon irgendwann bedenklich und eine gewisse Muskelleistung bedingt auch eine gewisse Mindest-Muskelmasse. Um sich beispielsweise im Langstreckenlauf auf nationalem oder gar internationalem Niveau bewegen zu können, darf das Körpergewicht nicht viel über 60 kg betragen. Demgemäß sind an der Weltspitze des Langstreckenlaufs größer gewachsene Läufer eine seltene Ausnahme. Die durchschnittliche Größe liegt schätzungsweise um die 168-172 cm (mit entsprechenden „statistischen Ausreißern“).


Zöge man mir die Beine länger, brächte es mir keine Vorteile.

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Mal ein paar Beispiele:
In den 1990er- bis 2000er-Jahren haben zwei äthiopische Läufer auf 5000-10000 m die Welt dominiert (Haile Gebrselassie und Kenenisa Bekele). Weltrekorde, Weltmeistertitel und Olympiasiege gingen chronisch an diese. Beide sind etwa 165 cm „klein“ und bringen geringe 56 kg auf die Waage. Mo Farah, ein britischer Weltklasseläufer (mit somalischen Wurzeln) auf der Bahn (auch 5000 und 10000 m) ist 175 cm groß und wiegt etwa 59 kg. Er ist von deutlich hagerer Figur als die beiden Afrikaner (geringere Muskelentwicklung). Dadurch ist sein Gewicht auch recht gering, sodass er trotz raumgreifender Schrittlänge (sichtbar länger als die der kleineren Konkurrenz) eine recht hohe Schrittfrequenz wählen kann. Ein sehr seltener krasser Fall war Carsten Eich, ein ehemaliger deutscher Spitzenläufer (bezogen auf nationales Niveau!). Dieser ist 190 cm groß und sein Gewicht lag bei ca. 65 kg. Sein Schritt war sichtbar niedrigfrequent lang und demgemäß nur von begrenzter Ökonomie. Seine Bestzeit auf der Marathondistanz war mit gut 2:10 h:m sehr gut, seine Körpermasse und seine Größe dürften aber ein höheres Niveau begrenzt haben.

Typische sinngemäße Äußerungen wie: „Der hat ja viel längere Beine. Wenn er einen Schritt macht, muss ich zwei machen“, als Argument für den vermeintlichen eigenen Nachteil ist also falsch.