Sinn und Unsinn "Dehnen"

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Seit Jahrzehnten wird das Dehnen bzw. Dehnübungen (und dessen Wichtigkeit) im Sport propagiert. Seit einigen Jahren gibt es aber immer mehr Stimmen, welche den Sinn des Dehnens ernsthaft infrage stellen, (oder dies sogar völlig ablehnen) mit Argumenten, welche durchaus einleuchten. Andererseits gibt es eine unzählige Menge von Menschen (Sportlern, Physiotherapeuten, Trainer usw.), welche regelmäßig Dehnübungen machen bzw. diese propagieren und nie irgendwelche negativen Begleiterscheinungen festgestellt haben – im Gegenteil, dies als positiv empfinden (was natürlich oftmals eine rein subjektiv empfundene Beurteilung ist). Können diese sich alle irren? Eine grundsätzliche Notwendigkeit zu dehnen besteht definitiv nicht, da der Mensch ansonsten so etwas wie einen Dehninstinkt besitzen würde, welchen er definitiv nicht hat. Kein Mensch würde von Natur aus auf die Idee kommen, regelmäßig und nach jeder körperlicher Belastung seine Muskulatur ausgiebig zu dehnen. In der ganzen Tierwelt ist so ein Verhalten auch nicht zu finden.

Spezielles bzw. gezieltes Dehnen ist eine menschliche Erfindung und keine naturgegebene Notwendigkeit. Der Mensch sollte nicht versuchen, schlauer zu sein als die Natur.

Dies muss natürlich nicht auch zwangsläufig bedeuten, dass Dehnen unnötig oder falsch ist. Aber auch hierbei ist ein Pauschaldenken unangebracht. Man sollte auch hierbei die individuellen Gegebenheiten betrachten, bevor man einfach nur von richtig oder falsch spricht. Die Tatsache, dass ein Muskel (über das Gelenk) einen gewissen Bewegungsspielraum zulässt, kann ein Ausnutzen dieses Spielraums (bis zur Grenze) nicht grundsätzlich als falsch deklarieren. Tatsache ist, dass viele Menschen in gewissen Bereichen sehr unbeweglich sind. Dies gilt insbesondere für diejenigen mit wenig Bewegung, aber auch für gut trainierte Sportler. Gewisse Muskeln neigen bei einer intensiven Beanspruchung auf die Dauer zu einer eingeschränkten Beweglichkeit, welches im Allgemeinen als "Verkürzung" definiert wird (ein etwas irreführender Begriff, wie später noch beschrieben wird). Gegner des Dehnens sehen diese „Verkürzung“ (gerade bei Sportlern) oft als eine normale und unbedenkliche Anpassung des Organismus an die gegebenen Umstände an, bei der Dehnen eher schaden würde.

Dieses Argument ist sicherlich grundsätzlich nicht als Unsinn abzutun. Es gibt kein Naturgesetz, welches vorschreibt, wie beweglich ein Mensch sein soll bzw. sein darf. Wenn gewisse Muskelpartien zur Verkürzung neigen, dann hat sich die Natur etwas dabei gedacht, und es wäre sehr anmaßend, solch eine Anpassung pauschal als etwas Negatives anzusehen, dem man unbedingt entgegenwirken muss. Diesbezügliche Orientierungswerte bzw. Maßstäbe sind auch nicht naturgegeben, sondern vom Menschen festgelegt worden. Eine Anpassung ist deshalb aber nicht automatisch etwas Unbedenkliches, welches einfach so hingenommen werden sollte.

Eine sehr deutliche Einschränkung der Beweglichkeit ist nichts Positives und von der Natur nicht vorgesehen und kann zu Problemen führen – und es ist dann sicherlich nicht falsch, dem entgegenzuwirken. Eine Erhöhung der Beweglichkeit durch Dehnen ist letztendlich auch eine Anpassung. Ein gut trainierter Muskel, welcher auch eine relativ hohe Beweglichkeit aufweist, ist nichts Schädliches oder gar Negatives (als bestes Beispiel dürfen hier die Kampfsportler dienen). Die Frage ist hier vielleicht eher zu stellen, wann bzw. in welcher Situation gedehnt werden soll und wann vielleicht nicht (da es sonst vielleicht wirklich eher schaden könnte). Hierbei können so manche Thesen mehr oder weniger sicher in die Schublade <Mythos> gesteckt werden. So ist nach starker muskulärer Beanspruchung (mit erhöhter Laktatanhäufung) Dehnen kein Mittel die Regeneration zu beschleunigen – im Gegenteil, es kann eher schaden. Dehnen verhindert auch keinen Muskelkater und wirkt auch nicht verletzungsprophylaktisch.

Und: Es ist völliger Unsinn, Dehnen als wichtiger Bestandteil des Aufwärmens zu propagieren. Dehnen wärmt den Muskel bzw. den Körper nicht auf! Es ist erstaunlich, dass z. B. bei Volkslaufveranstaltungen immer noch Scharen von Läufern zu beobachten sind, welche vor dem Start ausgiebig ihre Beinmuskeln stretchen.

Es könnten seitenweise Pro- und Kontra-Argumente aufgeführt werden, welches aber nicht Sinn dieses Artikels ist. Interessant ist, dass Dehnen immer nur im Sport propagiert und nicht generell in Verbindung mir körperlicher Beanspruchung gebracht wird/wurde. So wäre doch die logische Konsequenz aus Thesen, welche die Notwendigkeit des Dehnens propagieren, dass z. B. jeder stark körperlich beanspruchter Arbeiter, nach seiner Arbeit ausgiebig seine Muskeln dehnen müsste. In solchen oder ähnlichen Fällen macht sich aber keiner Gedanken darüber.

Im Sport setzt sich aber immer weiter die Meinung und das Verhalten durch, dass keine grundsätzliche Notwendigkeit besteht, ausgiebig und regelmäßig zu dehnen und dies demgemäß nicht oder eben nur in bestimmten Fällen bzw. Situationen zu praktizieren.


„Verkürzter Muskel“

Eine etwas irreführende Bezeichnung, da einem hier suggeriert werden kann, dass der Muskel in der Länge geschrumpft ist (er verkürzt sich nur bei der Kontraktion). Die kleinen Bestandteile innerhalb einer Muskelfaser, welche sich bei einer Kontraktion zusammenziehen bzw. beim Erschlaffen oder Dehnen eines Muskels wieder auseinandergehen (die so genannten kontraktilen Filamente, welche ähnlich wie Zahnräder ineinandergreifen), haben bei einem ausgewachsenen Menschen eine gewisse Länge. Diese Filamente können nicht schrumpfen oder (in der Länge) wachsen. Die Bezeichnung „Verkürzung“ bezieht sich auf eine eingeschränkte Beweglichkeit (welches demgemäß die treffendere Bezeichnung ist), deren Ursache eine frühzeitige (deutliche) Erhöhung des Muskeltonus ist, welche eine schmerzlose weitere Bewegung im Gelenk nicht mehr zulässt. Wäre der entsprechende Muskel völlig gelähmt, so wäre auch wieder die volle Beweglichkeit gegeben, ohne dass der Muskel reißt (welches dann bei einer echten Verkürzung passieren müsste).